- Meine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn
- 1. Moskau – Nischni Nowgorod: Erste Etappe per „S-Bahn“
- 2. Nischni Nowgorod – Jekaterinburg: Birken & Bettwäsche
- 3. Jekaterinburg – Nowosibirsk: Gentleman & Räucherfisch
- 4. Nowosibirsk – Krasnojarsk: Erhellte Osternacht
- 5. Krasnojarsk – Irkutsk: Welcome to Siberia
- 6. Irkutsk – Ulan-Ude – Entlang des Baikalufers
- Fazit
Die Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn ist ein großer Traum vieler Menschen – und dies aus teilweise ganz unterschiedlichen Gründen. Die einen möchten den rustikalen Luxus des Zarengolds genießen, die anderen sind auf der Suche nach dem ultimativen Abenteuer oder nach der meditativen Zeitlosigkeit einer solchen langen Reise auf Schienen. Und doch eint alle die Sehnsucht nach den unendlichen Landschaften Sibiriens, und der Reiz, auf besondere und authentische Weise russische Lebenswelten, sibirische Kulturen und burjatische Traditionen zu erleben.
Ich bin mir gar nicht so sicher, was mich an einer solchen Transsib-Reise am meisten beeindruckt. Sicher ist aber, dass meine erste Zugfahrt durch Sibirien eine der spannendsten (Reise-)Erlebnisse in meinem Leben war. Ein Augenöffner – eine Erfahrung, an der ich gewachsen bin. Und ich hoffe, es war nicht die letzte Erfahrung dieser Art auf dieser Route.
Meine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn
Es ist so weit. Die abenteuerliche Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn geht endlich los. Nach einem Vorgeschmack im Nachtzug von Berlin nach Moskau und einigen erlebnisreichen Tagen in den Vorzeige-Metropolen Moskau und St. Petersburg startet heute, am 22. April 2016 meine Zugreise durch die Weiten Russlands. Ein Leben zwischen Zugabteil und Hostelzimmer. Zwischen pittoresken Großstädten und sibirischen Sonnenuntergängen. Zwischen Moskau und Baikalsee. Auf Schienen Richtung Fernost.
In diesem Kapitel beschreibe ich meine Erlebnisse und Eindrücke auf den Reisen zwischen den Bahnhöfen, im Zugabteil. Die Berichte über meine Aufenthalte in Nischni Nowgorod, Jekaterinburg, Nowosibirsk, Krasnojarsk, Irkutsk, Ulan-Ude sowie am Baikalsee findest du in den Links. Die Reise ging schließlich noch weiter in die Mongolei. Ein Streckenabschnitt, dem ich einen eigenen Beitrag widme.
Diese Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn ist Teil eines größeren Reiseprojekts, das ich im Beitrag Auf Schienen von Berlin nach Saigon zusammenfasse.
1. Moskau – Nischni Nowgorod: Erste Etappe per „S-Bahn“
Bei der Buchung meiner Transsib-Tickets habe ich für die erste Etappe nach Nischni Nowgorod einen kleinen Fehler begangen. Denn die klassische Route der Transsibirischen Eisenbahn startet am Jaroslawer Bahnhof (Ярославский вокзал), einem jener Bahnhöfe am Komsomolskaja-Platz (Комсомо́льская пло́щадь). Ich habe unwissend jedoch einen schnelleren Zug (728ГА) gebucht, der vom etwas sachlicher gestalteten Kursker Bahnhof (Курский вокзал) im Osten der Stadt abfährt. Dorthin lasse ich mich morgens um 8:00 von einem Taxi bringen.
Nach der Sicherheitskontrolle, die mehr oder weniger halbherzig vollzogen wird, bewege ich mich zu Gleis 1. Dort gibt es dann eine rein-russische Ansage, woraufhin mich ein netter Mann übersetzend darüber aufklärt, dass der Zug heute von Gleis 11 fahre. Er hat recht, allerdings befindet sich das Gleis eh an derselben Plattform.

Das Interieur des Zuges erinnert mehr an deutsche S-Bahnen, denn an Transsibirische Eisenbahn-Romantik. Die Fahrt dauert nur gute vier Stunden und wird mich zumindest unaufgeregt und sicher ans Ziel bringen. Ich bin mir sicher, dass die restlichen gebuchten Züge schließlich das authentische Transsib-Erlebnis vermitteln werden.

Es dauert bestimmt eine Stunde, bis der Zug den urbanen Großraum in und um Moskau verlässt. Eine scheinbar unendliche wie beeindruckende Sequenz an Exponaten moderner Plattenbaukunst bestimmen die Aussicht. Viele Baustellen. Es wird bezahlbarer Wohnraum geschaffen, am Rande der edlen Metropole. Moskau zählt zu den teuersten europäischen Städten und führt die Liste der einwohnerreichsten Metropolen Europas an. Während das Bild für sich also schlicht den State of the Art suburbaner Bauprojekte präsentiert, ist besonders dessen Ausdehnung beeindruckend. Von Vorstadt zu Vorstadt. Vom Gleisbett zur Skyline.

Und auch ansonsten ist die Landschaft zwischen den Orten erstmal wenig aufregend. Wenige Akzente – ein nüchterner, jedoch keineswegs ernüchternder Auftakt der Zugreise. Die Highlights würden mich ohnehin im Fernen Osten der Route erwarten. Soweit erblicke ich einige hübsche Dörfer mit bunt-bedachten Häusern und Abstellgleise für Waggons der Russischen Eisenbahnen. Eine kurze Fahrt zur Akklimatisierung. Ich bin – auf der russischen Skala – schnell am Ziel, in Nischni Nowgorod, und bin gespannt auf die Geschichten, die hier auf mich warten.
2. Nischni Nowgorod – Jekaterinburg: Birken & Bettwäsche
Vor der Abfahrt nach Jekaterinburg bin ich am Bahnhof zunächst etwas verloren, da ich keine angezeigte Auskunft über das Abfahrtsgleis finde, und es auch halbwegs anspruchsvoll ist, sich ohne signifikante Russisch-Kenntnisse durchzufragen. Am Ende bekomme ich jedoch die Information, dass mein Zug „002MA Moskau-Wladiwostok“ um 20:17h von Gleis 6 abfährt. Die Fahrt soll also meine erste „echte“ Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn werden: über Nacht in einem Zug des Typs „Россия“ (Rossija = Russland). Beim Einsteigen werde ich von der Zugbegleiterin (проводни́ца, Provodnitsa) des Waggons freundlich auf Deutsch begrüßt. Das liegt nicht daran, dass ich ihr ungefragt von meiner Herkunft erzählte, sondern an dem geordneten Prozedere. Bevor man den Zug betritt, zeigt man sowohl sein Ticket als auch seinen verräterischen Reisepass vor.

Der Grund dafür ist die Bindung des Tickets und der (obligatorischen) Reservierung an die Passnummer. Was für die meisten Europäer etwas ungewöhnlich ist, ist auch in anderen asiatischen Ländern wie China ein ganz normaler Vorgang. Wer in Russland und v.a. China unterwegs ist, wird schnell feststellen, dass Zugreisen dort in mancherlei Hinsicht eher an Flugreisen erinnern. Das beginnt bei den großen Wartehallen in den Bahnhöfen, über mehr (China) oder weniger (Russland) strenge Sicherheitskontrollen mit mehr (China) oder weniger (Russland) funktionsfähigen Metalldetektoren, und endet mit dem Boarding. Man betritt also nicht frei beweglich das Bahnsteig und wartet auf den Zug, sondern wartet in der Halle, bis der Zugang zu den Gleisen freigegeben wird. Erst infolge der Platz- oder Bettzuweisung durch den/die Prodovnik/Provodnitsa im Zug gleicht das Reisegefühl dem Zugreisen daheim. Naja, nicht ganz…
Ich habe für die gesamte Reise Tickets für die 2. Klasse gebucht. Dabei handelt es sich um die Abteil-Klasse, auf Russisch Kupe (купе), bestehend aus Vierbett-Abteilen, die ich mir mit anderen Reisenden teile. Das ist einerseits etwas „privater“ als die 3. Klasse, die Platzkartny (Плацкартный), mit ihren die offenen Großraum-Schlafwagen; bietet andererseits jedoch mehr Kontaktpotenzial als die 1. Klasse (Spalny Vagon, спальный вагон) mit ihren privaten Zweibett-Abteilen. Mein Abteil teile ich mir also mit drei russischen Mitreisenden: zwei Frauen, vermutlich Mutter und Tochter, sowie einem älteren Mann, der angibt, in New York bei einer Radiostation der Columbia University zu arbeiten und dementsprechend fließendes Englisch spricht.

Dies ist eine dieser Unterhaltungen, welche nicht nur einen der großen Reize des Reisens ausmachen, sondern auch zeigen, wie klein die Welt heutzutage doch daherkommt. Er erzählt mir von seinem Sohn, der in Berlin als Filmemacher seinen Lebensunterhalt bestreite, und auch bereits in Düsseldorf gedreht habe. Ich bin erstaunt, wie die einfache Auskunft über das eigene Heimatland oder des genauen Wohnortes immer wieder zu interessanten Unterhaltungen führen, und Menschen dazu motiviert, über ihre eigene Biografie zu referieren. Nun, eine 21-stündige Zugfahrt bietet auch allerhand Gelegenheit für ausgiebige Gespräche.
Eine besondere Erfahrung russischer Gastfreundschaft darf ich zu Beginn dieser Fahrt machen, als die jüngere der beiden Frauen zur Kenntnis nimmt, dass ich mich beim Beziehen meines Bettes (etwas) unbeholfen anstelle. Von dem tragischen Schauspiel frustriert bittet sie mich, das Projekt doch lieber aufzugeben und an sie zu übergeben. Nun ja, tatsächlich bittet sie mich weder erst, noch kommuniziert sie ihre passive Verzweiflung verbal, sondern sie packt die Dinge direkt an und bezieht mir kurzerhand mein Bett. Dies ist eine Zuvorkommenheit, die ich auch auf einem späteren Streckenabschnitt nochmal genießen dürfen würde.
Was mich aus kultureller Sicht an derartigen Gepflogenheiten begeistert, ist die Diskrepanz zwischen bitterernster Miene sowie entschlossenem Tonfall einerseits, und der liebevollen Hilfestellung andererseits. Statt aufdringlich-höflichem Oberflächen-Singsang erfährt man hier „echte“, praktische Gesten der Freundschaft. An die Kultur des wenig freundlich erscheinenden Gesichtsausdrucks muss ich mich zwar etwas gewöhnen, jedoch fühle ich mich durch die praktische Aufmerksamkeit zu jeder Zeit mehr als willkommen im Land.
Die Fahrt von Nischni nach Jekaterinburg ist aus unterschiedlichen Gründen eine besondere Erfahrung – wenn man sie denn zur Kenntnis nimmt. Zum einen passiert man das Ural-Gebirge, welches den ansonsten eher flachen mittleren Westen Russlands in Nord-Süd-Richtung durchzieht, zum anderen die dadurch definierte geografische Grenze zwischen Europa und Asien… Ich halte durchaus Ausschau, jedoch ist von dem Gebirge auf dieser Strecke nicht viel zu erkennen. Auch jenen an der Bahnstrecke errichteten Obelisken, welcher die Grenze zwischen beiden Kontinenten markiert, entzieht sich leider meiner Aufmerksamkeit.

Landschaftlich ist diese Strecke zugegebenermaßen nicht außerordentlich aufregend, was vor allem ihrer weitläufigen Monotonie geschuldet ist. Zumeist durchdringen wir unendlich erscheinende Birken- und Nadel-Wälder in Niederungen, die in vielen Bereichen zu dieser Jahreszeit überflutet sind. Als wir zur Abwechslung mal kleinere Siedlungen passieren oder an einem Flussabschnitt entlangfahren, gewinnen diese Auen jedoch plötzlich enorm an Attraktivität. Vielleicht liegt es an den frech kontrastierenden bunten Dächern oder an der sich entschlossen einschleichenden Asymmetrie des Panoramas. Vielleicht aber auch an der schlichten Abwechslung nach stundenlangem Studium von Kiefern-Birken-Gesellschaften.
Dies soll nicht heißen, dass die Fahrt durch den Ural langweilig ist. Ganz im Gegenteil. Irgendwie ist es wie ein spannendes Fußball-Spiel, bei welchem über den gesamten Spielverlauf hinweg am Ende eben nur zwei Tore fallen, die dahingegen die dramaturgischen Höhepunkte des Ereignisses markieren und Vorfreude auf das nächste Spiel wecken. Diese Fahrt dauert insgesamt circa 21 Stunden, und es gibt sicherlich unterschiedliche Typen von Reisenden, die sich auf unterschiedliche Art und Weise beschäftigen oder bei Laune halten. Die Einheimischen, die diese Fahrt vielleicht häufiger und routinierter antreten (und entsprechend versiert bei dem Beziehen der Bettdecken sind), dürften von dem Reiseerlebnis weniger beeindruckt sein als die/der ausländische Transsib-Reisende auf ihrer/seiner persönlichen Jungfernfahrt.
So steigen etwa in Perm – der letzten großen Stadt vor der Ural-Passage – drei Jugendliche in mein Abteil, die sich durchgängig mit einem Kartenspiel amüsieren, während ich gebannt auf den nächsten landschaftlichen Impuls warte. Die in Perm aussteigenden Abteil-Genoss:innen lesen und unterhalten sich, wenn sie nicht schlafen. Generell sind Offenheit und Kommunikationsfreude der russischen Zugreisenden auffällig hoch und an sich schon die lange Reise wert. Man kann sich, sofern man die Sprachbarriere überwinden kann, immer in die Gespräche einbinden; oder sich einfach dem monotonen Ausblick sowie dem Schienen-Rattern hingeben, und die Reisezeit meditativ für sich nutzen.
Neben den kleineren landschaftlichen Attraktionen und bisweilen entgegenkommenden Zügen sind kleinere Zwischenstopps und Provinzbahnhöfe immer wieder eine schöne Abwechslung. Die Fassaden vieler russischer Bahnhöfe sind in den typischen, auffälligen Pastell-Farben gehalten. Doch auch hier bietet die Strecke Abwechslung, und man begegnet neben starren Funktionsbauten auch solchen mit lieblichen Features. Die legendären Babuschkas (Ба́бушка), jene Frauen, die die Reisenden auf den Bahnsteigen mit Speis und Trank versorgen, nehme ich auf diesem Streckenabschnitt noch nicht wirklich zur Kenntnis. Dies sollte sich später – ab West-Sibirien – ändern. Bis dahin erkunde ich erstmal Jekaterinburg, meine erste Station auf dem asiatischen Kontinent. Um 17:10h ist es so weit. Meine erste Nachtfahrt in der Transsibirischen Eisenbahn geht zu Ende, und ich erreiche die viertgrößte Stadt Russlands.
3. Jekaterinburg – Nowosibirsk: Gentleman & Räucherfisch
Für die Fahrt zum Bahnhof von Jekaterinburg Bahnhof hat mir Ksenia vom DoBeDo Hostel (➟ zum Jekaterinbirg-Artikel) ein Taxi bestellt. Die Windschutzscheibe des Fahrzeugs ist – gelinde gesagt – gesprungen, und der Fahrer maskulin-angetrunken, aber durchaus freundlich und lustig. Auch von diesem Kollegen bekomme ich mitgeteilt, dass er sich über meinen Besuch in Russland – und besonders Jekaterinburg – freut, jedoch kann ich dasselbe nicht über seinen feuchtfröhlichen Fahrstil sagen. Naja, das zählt dann wohl zu den mehr oder weniger kleinen Risiken, die man als Reisender in Kauf nimmt. Generell schätze ich tatsächlich die im Straßenverkehr lauernden Gefahren als die größten ein, die einen bei solchen internationalen Reisen erwarten. Sofern man sich nicht auf extreme Wetter-und-Kletter-Bedingungen einlässt.

Am Bahnhof warte ich auf meinen Zug (Nr. 092) nach Nowosibirsk, dessen Abfahrt auf 21:55h angesetzt ist. Mittlerweile begreife ich die Gepflogenheiten an russischen (Transsib-) Bahnhöfen etwas besser. In der Wartehalle zeige ich einer Kondukteurin mein Ticket und warte, bis die Gleisnummer an der Anzeigetafel auftaucht. Dies geschieht relativ kurzfristig, ca. 15-20 Minuten vor Einfahrt. Der Rest ist wie gehabt: am Bahnsteig zeige ich mein Ticket und meinen Pass beim Einstieg der/dem zuständigen Provodnik (проводник) und freue mich auf meine reservierte Koje.

Dieser Zug ist im Vergleich zum „Rossija“ innen etwas „klassischer“ ausgestattet. Die Wände und Türen sind allesamt mit einer charmant-polierten Holzvertäfelung versehen und die Schlafplätze und Bettdecken haben sicher auch schon die ein oder andere turbulente Geschichte zu erzählen. Die etwa 22-stündige Fahrt verbringe ich mit zwei Männern in einem Kupe- (2. Klasse) Abteil. Einer der beiden scheint ein Soldat auf Heimreise zu sein, der andere ein gut gekleideter Gentleman mit einigermaßen guten Englisch-Kenntnissen. Letzteres ist tatsächlich eine Besonderheit, auf die man relativ selten in den Zügen der Transsibirischen Eisenbahn trifft. Wie bereits auf meinem letzten Streckenabschnitt wird mir gastfreundlicher Weise – durch den Gentleman – mein Bett bezogen. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher, ob es wirklich die reine Gastfreundschaft ist oder ob ich mich nicht doch allzu deppert anstelle.
Nichtsdestotrotz fühle ich mich im Abteil willkommen, und mir wird durchaus auch Interesse an meiner Reiseroute entgegengebracht. Der Gentleman stammt aus Tomsk (Томск), einer wohl sehr pittoresken Großstadt in der Nähe (sibirische Skala) von Nowosibirsk. Er rät mir, unbedingt einen Abstecher per 5-stündiger Busfahrt dorthin zu machen. Obwohl mich die Idee reizt, und man in Tomsk wohl die volle Dosis sibirischer Holzhaus-Architektur erleben kann, bleibe ich bei meiner geplanten Reiseroute, die zeitlich auch so bereits relativ knapp bemessen ist. Leider.

Ich hatte die gesamte Route bis Peking im Vorfeld durchgebucht, aus Furcht vor überfüllten Zügen und Ticketknappheit bei spontanen Fahrten. Um diese Jahreszeit im April/Mai scheint dies jedoch kein Problem zu sein. Eine Einschränkung ist dagegen freilich die vierwöchige Gültigkeit des Russland-Visums. Ich möchte mich nicht in der Situation wiederfinden, das Visum überzogen zu haben und vielleicht nicht mehr ausreisen zu können.
Nach der friedlichen Nachtruhe treffen wir am Morgen in Omsk (Омск) ein, jener Stadt, die ich von meiner ursprünglichen Route gestrichen hatte. Da der Zug hier einen längeren Stopp einlegt und der Gentleman ein Gentleman ist, bietet er mir an, gemeinsam den schönen Bahnhof (Омск-Пассажи́рский) zu besichtigen. Tatsächlich ist dieser Bahnhof, der Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Konstruktion der Transsibirischen Eisenbahn errichtet und in seiner heutigen Erscheinung 1958 fertiggestellt wurde, einer der eindrucksvollsten Bahnhöfe auf der Reise. Stilistisch erinnert er an den Weißrussischen Bahnhof in Moskau und den Bahnhof Nowosibirsks, und wartet mit einer großen Wartehalle auf.
Nach einer kurzen Fotosession wird es dann noch spannend. Wir haben unsere kleine Exkursion nämlich etwas verspätet angetreten und letztlich nur 10 Minuten Zeit, bis die Schaffnerin ihren Lungeninhalt wieder durch ihre Pfeife filtrieren würde. Das hält den Gentleman nicht davon ab, nochmal die Toilette aufsuchen zu müssen und mich zu bitten, die Prodovnica gegebenenfalls um etwas Geduld zu bitten. Schließlich genießen alle Prodovniks vor den Waggons noch ihre Zigarettenpause, begrüßen mich mit einem freundlichen „Gute Morge“ und lassen auch den heran rennenden Gentleman noch einsteigen.
Das nächste klassische Highlight der Transsibirischen Eisenbahn wartet dann auch schon fünf Stunden später auf mich: der Bahnsteig von Barabinsk (Барабинск). Die mittelgroße Stadt ist besonders für ihre lokalen, aus den umgebenden Seen stammenden Fischerzeugnisse berühmt. Und so versammeln sich hier am Gleis mehrere Verkäufer:innen, die an Metallhaken angereihte Räucherfische feilbieten. Auch meine beiden Kabinengenossen haben sich nicht zweimal bitten lassen, und kehren mit je einer halbvollen Tüte dieser aromatischen sibirischen Spezialitäten zurück ins Abteil. Mir wurde durchaus angeboten, davon mitzunaschen … Ich ärgere mich mittlerweile ein wenig, damals abgelehnt zu haben. Am Ende war die davon ausgehende Geruchsnote weniger schlimm als man sich das klischeehaft erzählen würde.

Ansonsten ist die Fahrt bis zur Ankunft in Nowosibirsk wenig aufregend. Die landschaftliche Monotonie verliert als solche irgendwann – also nach etlichen Stunden – vollständig ihren Reiz und auch die erforderliche Kompromissbereitschaft im Abteil strengt bisweilen an. Man muss dazu wissen, dass es in diesen Abteilen je zwei Ober- und zwei Unterbetten gibt. Tagsüber werden letztere von allen Kabinen-Insass:innen als Sitzgelegenheiten genutzt. Das heißt, dass es zumindest als unhöflich aufgefasst werden könnte, wenn man seinen Schlafplatz liegender Weise als solchen nutzt.
Zwischendurch gibt es noch ein kleines Unterhaltungsprogramm: aus einem Tablet wird ein in russischer Sprache kommentierter Film über traditionellen Schiffsbau in der abgelegenen sibirischen Taiga angesehen. Immerhin wird versucht, mir das gesehene ein wenig zu erklären. Und die filmische Darstellung der Handanfertigung von einteiligen Schiffsrümpfen aus Baumstämmen (innerhalb von 3 Tagen) ist an sich schon beeindruckend.
Schließlich erreichten wir Nowosibirsk am Abend und ich verabschiedete mich vor dem Bahnhof noch von dem Gentleman, der ein letztes Mal (vergeblich) versucht, mich von einer Weiterreise nach Tomsk zu überzeugen. Das nächste Mal – mit Sicherheit das nächste Mal!
4. Nowosibirsk – Krasnojarsk: Erhellte Osternacht
Mein Zug nach Krasnojarsk fährt um 18:34 h ab. Mittlerweile bin ich bereits selbstbewusster Transsib-Routinier und stelle am Bahnhof nur noch eine einzige Orientierungsfrage. Der Zug fährt schließlich von Gleis 1 und ist vom Typ „Jenissei“. Das bedeutet ein ‚Upgrade‘ zur vorangegangenen Fahrt. Die Innenausstattung ist modern, mit Lesebeleuchtung, heller Innenauskleidung und weniger mitgenommenen leuchtend-blau bezogenen Bänken. Und noch mehr Upgrade ist, dass ich das gesamte Vierer-Kupe-Abteil für mich allein habe.
Das wird eine entspannte Fahrt, in der ich mich komplett dem Klickety Klack des Rad-Schienen-Systems hingeben kann. Wenn es auch etwas schade ist, dass ich keinen Austausch mit Mitreisenden habe, freue ich mich auf die Extraportion Erholung während dieser ohnehin nur ca. 12-stündigen Fahrt weiter gen Osten durch Sibirien. Auch auf dieser Strecke dominieren im Einklang die sibirische Weite, die Monotonie, die Birken, die Birken, die Birken…
Jedoch, die Landschaft ändert sich im Vergleich zu der vorigen Strecke durchaus ein wenig. Hier zeigen sich in leichten Ansätzen die nördlichen Ausläufer des südsibirischen Altai-Gebirges.
Zwischen Birken und Nadelbäumen tauchen immer wieder kleine Dörfer aus Holzhäusern auf. Ich genieße die Eindrücke vor der Kulisse des Sonnenuntergangs. Es ist die Nacht zum orthodoxen Ostersonntag, der im Jahr 2016 auf den 1. Mai fällt. Am Himmel steigen über einigen Dörfern Feuerwerksraketen auf.
Nach eine ansonsten ereignislosen Fahrt im leeren Abteil erreiche ich die Stadt am Jenissei am frühen Morgen um 7:40. Ich freue mich auf meine erste Wanderung in der Natur während dieser Reise. Neben dem Stolby Nationalpark warten hier ein wunderschönes Flusspanorama und eine Extraportion russische Geschichte auf mich: der russische Ostersonntag fällt im Jahr 2016 auf den 1. Mai.
5. Krasnojarsk – Irkutsk: Welcome to Siberia
Um 13:24h geht es dann mit Zug Nr. 070Ch (070Ч) weiter von Krasnojarsk nach Irkutsk. So langsam wird es ernst. Ich nähere mich dem Baikal-See, Höhepunkt und Belohnung einer jeden Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn. Mein Kupe-Abteil teile ich mir mit einem jungen Isländer und einer jungen, gut englisch-sprechenden Russin. Wir drei würden im Laufe der Fahrt noch eine interessante, gemeinsame zwischenmenschliche Erfahrung machen, von der zunächst noch nichts zu ahnen ist.
Der Isländer erzählt mir, dass er sich insgesamt acht Monate Auszeit genommen hat, um auf diese Reise bis nach China zu gehen. Genau genommen hat er seinen Job als Koch in Dänemark gekündigt und möchte sich auf der Reise unter anderem von der chinesischen Kunst der Nudelzubereitung inspirieren lassen, um sich nach der Heimkehr dann selbstständig zu machen. Ich setze mich mit ihm zum Abendessen in den Speisewagen, wo ich mich selbst mit (buttrigen) Bratkartoffeln und Krautsalat sättige. Er erzählt mir von der französischen Cuisine, der Mutter aller Küchen.
Plötzlich stößt ein sichtlich betrunkener junger Russe dazu, der neben seinem Zustand auch durch sein martialisch gestaltetes, nationalistisches T-Shirt auffällt. Auf den ersten Blick keiner jener Typen, die man versucht, spontan mit flapsigen Neckereien von einem kumpelig-freundschaftlichen Verhältnis zu überzeugen. Er beginnt sich für unsere Kopfbedeckungen zu interessieren, möchte sie aufprobieren. Der Gute möchte ihrer schließlich habhaft werden und schlägt irgendwelche Deals vor, die ausschließlich seinem Vorteil dienen. Wir merken, dass es ihm nicht ernsthaft um die Caps geht, sondern um die Unannehmlichkeit, die in dieser Situation für alle Beteiligten entsteht.

Zu unserem Glück stößt bald unsere russische Abteil-Genossin hinzu, die zufällig mit-verantwortlich für den Zustand unseres neuen Freunds ist, denn die beiden haben sich gemeinsam den ein oder anderen Bord-Vodka gegönnt. Hilfreich ist sie einerseits, weil sie die Sprachbarriere – der junge Mann spricht ausschließlich Russisch – zu überwinden hilft, andererseits, weil sie es schafft, unseren ungerufenen Kontrahenten ein wenig zu de-testosteronisieren. Nachdem jener, sich als Sascha vorstellend, uns also schließlich brüderlich die ewige Freundschaft anbietet (die wir pragmatisch annehmen), kommentiert sie gelassen: Welcome to Siberia!
Sascha, der selbst in der Platzkartny-Klasse untergebracht ist, taucht noch mehrfach am Tisch und später im Abteil auf. Zunächst geht es wieder um irgendeinen Deal, den ich – auch aufgrund meiner lediglich rudimentären Russisch-Kenntnisse – nicht ganz begreife. Dann taucht er mit einem jungen Studenten auf, den er dazu auffordert, mit uns Englisch zu sprechen. Nutze die Gelegenheit. Ich unterhalte mich also etwas mit dem schüchternen jungen Mann, bis uns die Themen ausgehen.
Sascha ist halbwegs zufrieden, verschwindet und schlummert schließlich in seiner Koje ein. Letzteres stelle ich fest, als ich einer zugestiegenen älteren Dame mit ihren schweren Kisten in das Platzkartny–Abteil helfe. Auf der gesamten Route begegnet man vielen Menschen, die den Zug auch für den Transport größerer Mengen an Waren nutzen. Ich bin erstaunt und frage mich, wie diese Frau mit ihren vier extrem schweren Kisten es schafft, diese Reise im Alleingang zu bewältigen. Offenbar kann man sich hierzulande schlichtweg auf die Hilfsbereitschaft seiner Mitreisenden verlassen.

Die mir entgegengebrachte Hilfsbereitschaft ist sicher nicht spezifisch für ausländische Touristen, sondern meiner Meinung nach ein Teil der russischen Kultur. Ein Teil solidarischen Miteinanders. Wie zuvor an diesem Abend beobachtet, lässt sich selbst eine konstruierte Anfeindung kurzerhand in ein brüderliches Verhältnis überführen.
Den Rest der Fahrt kann ich schließlich der vorbeiziehenden Landschaft und meiner eigenen Nachtruhe widmen. Es bleibt weiter leicht hügelig und etwas abwechslungsreicher als in West-Sibirien. Einige schöne Provinz-Bahnhöfe passieren wir unterwegs. Der letzte Stopp vor Irkutsk ist die Großstadt Angarsk (ангарск), deren Name bereits auf den nächsten großen, wichtigen sibirischen Fluss verweist, die Angara (Ангара).

Nach dem Ausstieg in Irkutsk am frühen Morgen begegne ich vor dem Bahnhofsgebäude nochmal Sascha, der sich offenbar am Kiosk mit leckeren Snacks für seine weitere Fahrt nach Tschita (Чита) eingedeckt hat. Wir bekräftigen nochmal unsere Freundschaft, wünschen uns alles Gute für die weitere Reise und verabschieden uns. Leider versäume ich es, ein gemeinsames Selfie zu schießen. Egal. Neumodischer Firlefanz! „Welcome to Siberia!“
6. Irkutsk – Ulan-Ude – Entlang des Baikalufers
Der wohl schönste Streckenabschnitt auf der Transmongolischen Route der Transsibirischen Eisenbahn ist jener von Irkutsk nach Ulan-Ude im Herzen Burjatiens. Die Zugfahrt ist mit circa 8 Stunden vergleichsweise kurz, aber umso eindrucksvoller. Aus offensichtlichen Gründen solltest du unbedingt eine Fahrt bei Tageslicht buchen. Ich habe mich für eine frühe Fahrt von 8:14h bis 16:21h entschieden.
Die Strecke führt entlang des West- und Südufers des Baikalsees sowie entlang der Selenga (Селенга), einer der größten Zuflüsse des Baikals, und liefert jene fantastischen Bilder, die man immer wieder stellvertretend für die Transsibirische Eisenbahn in Reiseberichten zu sehen bekommt. Leider habe ich wenig Glück mit den Wetterbedingungen, sodass der Blick auf See und Küste zumeist – wenn auch nicht immer – etwas eingetrübt ist.

Auf der anderen Seite zeigt sich mir der See in unterschiedlichen saisonalen Stadien. Zum Teil am Ufer noch mit Eisdecke, streckenweise bereits frühjährlich anmutend, mit kleinen Wellen, die am Ufer brechen. Ich fahre durch die hügelige Landschaft Burjatiens, mit seinen kleinen Dörfern, Schneegipfeln, und von überraschend herabrieselndem Neuschnee bedecktem Nadelwald.

Der Zug überquert die mächtige Selenga auf einer pragmatisch-rustikalen Stahlbrücke und gewährt mir Blicke auf eine ebenso rustikale Landschaft zum Jahreszeitenwechsel. Ein Blick auf eine Gegend, die irgendwie noch zerstreuter und etwas bunter wirkt als die Abschnitte zuvor. Ich freue mich auf meine letzte Station in Russland, auf die Hauptstadt der Teilrepublik Burjatien, Ulan-Ude. Meinem letzten Stopp vor der Mongolei.

Fazit
Für die Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn gibt es unterschiedliche Optionen bezüglich der Komfort-Klassen, die zum Teil unterschiedliche Reiseerlebnisse versprechen. Grundsätzlich heißt es, dass Intensität und Authentizität des Lebens im Zug mit steigendem Komfortniveau abnehmen.
Eigentlich ein guter Deal: Je billiger, desto aufregender. Allerdings kann das natürlich jede*r unterschiedlich bewerten – Budget sowie Sicherheits- und Ruhebedürfnis sind sehr unterschiedlich. Das gute aber ist: solltest du Zwischenstopps einplanen, bist du flexibel und kannst für die einzelnen Reiseabschnitte unterschiedliche Klassen buchen.
Die 3 Reiseklassen:
- Lux – 1. Klasse: Abteil mit 2 Betten
- Kupe – 2. Klasse: Abteil mit 4 Betten
- Platzkartny – 3. Klasse: Großraum mit 54 Betten
Ich selbst habe die Reise von Moskau bis Ulan Ude (und später durch die Mongolei bis nach Peking) vollständig im Kupe-Abteil (2. Klasse) verbracht. Auf den meisten Streckenabschnitten kam ich dabei in Kontakt mit einheimischen Mitreisenden. Dabei erlebte ich vor allem eine ungewohnte Gastfreundschaft, Interesse und Herzlichkeit. Man muss sich nichts vormachen: Die landschaftlichen Eindrücke allein sind über weite Strecken sehr monoton. Spannender wird es erst ab Krasnojarsk – mit dem Höhepunkt auf der kurzen Strecke zwischen Irkutsk und Ulan Ude, entlang des Baikalsees. Insofern ist Gesellschaft im Abteil das eigentliche Reiseerlebnis mit der Transsibirischen Eisenbahn, und man taucht ein wenig in das echte russische/sibirische Leben ein. Jedenfalls während einer kurzen Episode.
Vermutlich bekommst du im Großraum-Wagen der Platzkartny–Abteile (3. Klasse) einen noch intensiveren Eindruck von dem sozialen Reiseleben während der langen Strecken durch Sibirien. Ich persönlich genieße aber als eher introvertierter Mensch auch die Phasen der Ruhe und halte die Kupe-Variante mit maximal 3 Mitreisenden im Abteil für den idealen Kompromiss.
Und es gilt: Am Ende weißt du ohnehin nicht, was und (insbesondere) wer auf dich zukommt. Also: Lass die Reise auf dich zukommen!
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Weitere Quellen:
- Blog-Artikel über eine Reise mit dem Sonderzug „Zarengold“ auf unterwegs-mit-madlen.de
Hinweis: Alle in diesem Artikel beschriebenen Reisen wurden privat finanziert. Ich erhalte keine finanziellen Zuwendungen von in diesem Artikel genannten Unternehmen oder anderen Organisationen.