Warum nach Nischni Nowgorod reisen?
Nischni Nowgorod ist mit mehr als 1,2 Millionen Einwohnern eine der größten Städte Russlands und liegt ca. 400 km östlich von Moskau auf der Route der Transsibirischen Eisenbahn. Trotz ihrer Größe hat sie sich einen provinziellen Charme erhalten und ist nicht zuletzt wegen ihres auf einer pittoresken Anhöhe gelegenen Kremls einen Besuch wert.
Landschaftlich ist die im Jahr 1221 gegründete Stadt in das Zentrum der Osteuropäischen Ebene eingebettet, wo sie von ihrer Oberstadt aus fantastische Ausblicke auf den Zusammenfluss von Oka und Wolga bietet. Auch der historische Teil von Nischni Nowgorod ist gespickt mit sakralen sowie musealen Attraktionen und lädt zu einem Halt ein.
Reisebericht – Mit Gruß aus Gorki
Begrüßung mit Kohl und Schewardnadse
Nach der knapp vierstündigen Fahrt mit dem Expresszug von Moskau (Kursker Bahnhof – Курский вокзал) komme ich am Moskauer Bahnhof (Московский вокзал) von Nischni Nowgorod an. Der ersten Stadt auf meiner Reise, deren Namen und Existenz sich meinem Radar vor den Recherchen völlig entzog. Wie immer – und getreu den Empfehlungen des Reiseführers – entferne ich mich erstmal zu Fuß vom Bahnhof und nehme erst kurz vor der über die Oka führenden Kanawinski-Brücke (Канавинский мост) ein Taxi zum Azimut Hotel.
Der Taxifahrer ist hocherfreut ob der Tatsache, dass ich aus Deutschland komme, und erzählt mir in einer charmanten deutsch-russischen Sprach-Melange von seiner innigen Liebe zu Altkanzler Helmut Kohl, welcher ein guter Freund des jüngst verstorbenen († 7. Juli 2014) letzten Außenministers der Sowjetunion und späteren Präsidenten Georgiens, Eduard Schewardnadse, gewesen sei.
Meines Verständnisses nach ist der Fahrer selbst teils georgischer Abstammung und begreift unsere Begegnung – ebenso wie ich – als einen schicksalshaften Ansatz von Völkerverständigung. Ich empfinde das Gespräch nicht nur als eine sehr sympathische Geste der Gastfreundlichkeit, sondern auch als eine erquickende Begrüßung in einer mir praktisch unbekannten Stadt. Schließlich war Nischni Nowgorod (Нижний Новгород), was ins Deutsche etwa in Nieder Neustadt zu übersetzen ist, zu Sowjetzeiten als wichtigster Rüstungsstandort des Landes immerhin über sechs Jahrzehnte (bis 1991) für ausländische Besucher nicht zugänglich.
„Nischni“, wie der Volksmund die Stadt bezeichnet, trug in jener Zeit – zwischen 1932 und 1990 – den Namen Gorki (Горький), zu Ehren des hier geborenen Schriftstellers Maxim Gorki. Dies spiegelt sich entsprechend in der Namensgebung zahlreicher Straßen, Plätze, Museen und auch moderner Café Trucks wider. In der Nähe eines solchen finde ich mich also im Hotel ein, welches, am Rande der historischen Oberstadt gelegen, einen tollen Ausblick auf die große Brücke zwischen Ober- und Unterstadt, sowie auf die Einmündung der Oka in die Wolga bietet. Die Ästhetik dieser Flussmündung vor dem Hintergrund der Weite des Landes sollte sich für mich als ein echtes Highlight dieses Ortes und meiner Russland-Reise erweisen.
Geführte Tour durch die Oberstadt
Die Farbe der Kirchen
Um an meinem einzigen Tag in Nischni Nowgorod möglichst viel über diese mir noch völlig unbekannte Stadt zu lernen, entscheide ich mich für eine geführte Tour, die ich bei der örtlich NeNinO Tour Company buche. Meine Guidin Tanja spricht fließend Deutsch und erzählt mir viel über Stadt, Kultur, Religion, Altgläubige und Kirchen. Unter anderem erläutert sie mir den Farbcode orthodoxer Kirchendächer. So seien Kirchen mit grünen Dächern nach Männern benannt, solche mit blauen Dächern nach Frauen. Schwarze Dächer signalisieren den Namensverweis auf Krieger.
Weitere Recherchen weisen mich – etwas genauer – darauf hin, dass Blau entsprechend die Farbe der Gottesmutter, Grün die Farbe des Heiligen Geistes (Dreifaltigkeitskirchen) sei. Gold ist eine Referenz für den Himmel und kennzeichnet besonders zentrale Kirchen des orthodoxen Christentums.
Blick auf die Strelka
Mein Sightseeing Programm umfasst einen Rundgang durch den historischen Teil der Oberstadt, ausgehend von der Parkanlage nahe der Ulica Zalomova im Bereich des Denkmals für Jules Verne mit seinen zahlreichen Aussichtsgelegenheiten auf die Strelka (Стрелка), die Nischni Nowgoroder Landzunge mit der Alexander Newski Kathedrale (Собор святого благоверного князя Александра Невского) und dem im Jahr 2016 noch im Bau befindlichen Fußballstadion. Bei Alexander Newski handelt es sich um einen heilig-gesprochenen Nationalhelden und Heerführer (der u.a. die Schweden bei der Schlacht an der Newa zu schlagen wusste) aus dem 13. Jahrhundert. Die schwarze Bedachung der Kathedrale ist hier der Definition Tanjas entsprechend schlüssig.
In der Kathedrale
Im Fall der Mariä-Geburt-Kathedrale (Церковь Собора Пресвятой Богородицы) – unterhalb der Parkanlage gelegen – ist diese Zuordnung nicht ganz so leicht, da sie wie die Basilius-Kathedrale in ➠Moskau und die Kirche des Erlösers auf vergossenem Blut in ➠St. Petersburg mit bunten Zwiebel-Kuppeln auffällt. Aber der Katalog der Symbolik bezüglich der vielfältigen Erscheinungsformen orthodoxer Kirchbedachung ist umfassend, und ich beschließe, die Zwiebeln und Kuppeln einfach so zu nehmen, wie sie sind.
Innerhalb der Kathedrale trete ich ein ’sakrilegäres‚ Fettnäpfchen. Ich frage vor dem Betreten, ob ich meine Kopfdeckung abnehmen soll, was verneint wird. Nur Tanja müsse umgekehrt, als Frau, ihr Haupt mit einem Kopftuch unkenntlich machen. Im Inneren der Kirche, vor dem goldenen Altar stehend und staunend, werde ich schließlich von einem Geistlichen dazu aufgefordert, meinen Hut abzunehmen. Nun gut, kein großes Problem. Ich komme mir nur leicht ignorant vor. In etwas anderer Konstellation werde ich später in ➠Irkutsk eine sehr ähnliche Situation erleben.
Auf dem Weg zum Kreml
Entlang des etwa 30-minütigen Weges auf der authentisch-schönen Ilinskaja Ulica (Ильинская Улица) Richtung Kreml begegnen wir neben modernen Wohnblöcken und Jugendstilbauten zahlreich ins Stadtbild eingestreuten, typisch-russischen Holzhäusern, sowie teilweise bizarr wirkend in die Wohnreihen eingebetteten Kapellen. Angesichts der innenstadtnahen Lage merke ich hier wieder, dass ich mich nicht mehr in einer mondänen Weltmetropole wie Moskau oder St. Petersburg befinde, und es deutlich beschaulicher zugeht in – immerhin – der fünftgrößten Stadt Russlands (Stand 2017).
Wir erreichen und durchstreifen die große Fußgängerzone, die historischen Bolschaja Pokrowskaja (Большая Покровская улица), und treffen auf zahlreiche Straßenhändler, -künstler und -musiker. Nicht zuletzt dank der Ansammlung unterschiedlicher Baustile mit geschmackvoll gestrichenen Jugendstilhäusern genieße ich eine akustisch und optisch bunte Atmosphäre. Eine auffällige Besonderheit ist das Gebäude der Staatsbank, einerseits wegen seiner burgähnlichen Erscheinung, andererseits wegen seiner „Krönung“ mit einem goldenen Hammer-und-Sichel-Symbol – beides nicht unbedingt konkrete Hinweise auf die tendenziell wohl eher marktorientierten Umtriebe innerhalb des Hauses.
Auf letzteres Detail werde ich übrigens weder hingewiesen noch – sagen wir mal – dazu ermutigt, es abzulichten. Aber schließlich ist die Konzentration bereits auf etwas viel Spannenderes gerichtet. Denn am Ende der Fußgängerzone, auf einer Anhöhe, wartet der Kreml, dessen Außen- und Innenbesichtigungen beeindruckende Erlebnisse sind. In rotem Backstein gefestigt, kämpft sich das Gemäuer den halb steilen Weg zum Ufer der Oka hinauf. Die grünen Dächer auf den mächtigen, gedrungenen Wachtürmen suchen nach unserer Aufmerksamkeit.
Innerhalb der Kreml-Mauern
Zwar erscheint dieses Exemplar etwas weniger dominant und majestätisch als der Moskauer Kreml, doch spüre ich auch hier in prägnanter Weise einen Teil der stolzen russischen Seele, und deren Mitprägung durch militärische (Verteidigungs-)Erfolge, wie sie sich auch im weiteren Verlauf meiner Reise immer wieder darstellen wird. Ich bekomme hier viel über den Glauben in Russland während und nach der Sowjetzeit erzählt. Die Geschichte des Kremls, bzw. dessen hölzerne Vorläufer, so wird mir erzählt, geht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Die heutige Erscheinungsform wurde im frühen 16. Jahrhundert fertiggestellt, um Invasionen am Oka-Wolga Zufluss effektiv abzuwehren.
Exkurs: Die Altgläubigen
Mit Verweis auf meinen Bartwuchs geht Tanja mit ihren Erzählungen in das späte 17. Jahrhundert zurück. Denn ein gewisser Peter der Große führte einst – inspiriert von den Modetrends des Westens – eine Bartsteuer für all jene ein, die sich weigerten, ihren altbackenen Bart abzuscheren. Diese Regelung traf vor allem die Altgläubigen (староверы), also jene konservative Gruppe von Orthodoxen, die sich der im Jahr 1652 in Kraft getretenen Reform der Gottesdienste verweigerten, und die ihre Barttracht als eine Art Gotteswürde betrachteten.
Nachdem dieses Dilemma einige ins Exil getrieben hatte, gestattete erst Katharina die Große mehr als ein halbes Jahrhundert später wieder das steuerbefreite, ungenierte Tragen wüchsigen Gesichtshaares. Ich versichere mich, dass auch heute keine weiteren Abgaben zu befürchten sind, und lasse mich auf die Sehenswürdigkeiten innerhalb der Kremlmauern ein.
Neben zahlreichen exponierten Panzern und anderen Militärfahrzeugen, die vermutlich in Nischni gefertigt wurden, findet sich auf dem Gelände eine würdige Gedenkstätte für den Großen Vaterländischen Krieg. Ähnlich wie auch in anderen russischen Städten erinnert ein Obelisk nebst Ewiger Flamme an die gefallenen Helden.
Auch speziellen militärischen Einheiten wie der auf arktische Operationen spezialisierte Karelischen Front (Карельский фронт) werden geehrt. Die entsprechend angebrachten Fähnchen sind vermutlich ein Teil der jährlichen Siegesfeier am nahenden 9. Mai. Wie auch in anderen Beiträgen zu meiner Russland-Tour erwähnt, spielen speziell die Symboliken der Sowjetunion und der Roten Armee eine große Rolle bei diesen Feierlichkeiten. Dies scheint – so habe ich es mir berichten lassen – in anderen ehemaligen Staaten der Sowjetunion zumindest heutzutage anders zu sein. In der Russischen Föderation dagegen bleibt der patriotische Bezug zur russisch-dominierten Supermacht des 20. Jahrhunderts sichtbar erhalten.
Neben den Monumenten der jüngeren Geschichte befinden sich auf dem Areal des Kremls auch Verwaltungsgebäude und andere interessante historische Zeugnisse. Etwa die grün bedachte Erzengel-Michael-Kathedrale (Михайло-Архангельский собор), deren Originalbau aus dem Jahr 1227 zu den ältesten steinernen Sakralbauten Russlands zählt. Obwohl ich nicht einmal als außerordentlich begeisterter Architektur-Historiker nach Russland gereist bin, beginnt die Sichtung und Recherche dazu, mich nachhaltig mitzureißen. Denn ich bin davon überzeugt, dass auch diese Informationen wichtige Fragmente größerer Zusammenhänge darstellen, die es am Ende braucht, um ein Land mit seiner Kultur und seinen Menschen umfassend verstehen zu können.
Schließlich ist der Kreml erst deutlich später um die ursprüngliche Kathedrale gebaut worden, bevor er wiederum 200 Jahre später dank der Osterweiterung des Zarenreiches als Grenzposten gegen die Tataren obsolet wurde. Heute liegt in der Kathedrale die Asche des russischen Volkshelden Kusma Minin (Кузьма Минин) aus dem frühen 17. Jahrhundert begraben.
Blick auf den Zusammenfluss von Oka und Wolga
Außerhalb des Kremls, der also einst als Zitadelle dem Schutz der strategisch günstig gelegenen Stadt am Oka-Wolga-Zusammenfluss diente, entspannt mich der herrliche Ausblick auf die Flussmündung. Hier empfehle ich besonders die frühen Abendstunden, und den Aufstieg zum Denkmal für Waleri Tschkalow (Валерий Чкалов), einen draufgängerischen Rekordpiloten und Helden der Sowjetunion, der im Jahr 1937 als erster nonstop von der Sowjetunion in die USA geflogen ist.
Bronzeskulpturen in Nischni Nowgorod
In der Innenstadt – besonders im Bereich der Fußgängerzone Bolschaja Pakrowskaja (Большая Покровская улица) – erzählen zahlreich verteilte Bronzeskulpturen Geschichten aus vergangenen Zeiten. Es lohnt sich allein für die Sichtung dieser Exponate eine Walking-Tour mit eine:r lokalen Touristenführer:in zu buchen, und sich vor Ort die Legenden und Geschichten zu den Werken erzählen zu lassen. Besonders gefiel mir die erst 2013 in der Roshdestwenskaja Str. errichtete Skulptur des Мальчик с бубликами, des Brötchenjunge, die für Touristen eine beliebte Selfie-Gelegenheit darstellt – zumal mit der beeindruckenden Mariä-Geburt-Kathedrale im Hintergrund.
Reisebegegnung – Herzlichkeit mit Sprachbarriere
Am Ende meines Stadtrundgangs spricht mich auf dem Weg zurück ins Hotel vor einem von mir als Fotoobjekt auserkorenen Gemüse-Kiosk eine ältere Frau an, die sich an meiner deutschen Herkunft erfreut und mich für ein Stück auf meinem Weg begleitet. Sie spricht – ebenfalls in mit deutschen und englischen Begriffen angereichertem Russisch – von ihrer deutschen Mutter, welche während des Kriegs nach Finnland geflohen war. Leider kann ich wegen der Sprachbarriere nur Fragmente ihrer Geschichte rekonstruieren, und der gemeinsame Spaziergang endet schließlich, als sie einen Anruf bekommt. Trotz der kommunikativen Hürden zeigt sich mir in der gesamten Geste erneut die unbefangene Offenherzigkeit, die ich auf meiner Reise häufig erfahre.
Fahrt zum Bahnhof – Variable Taxipreise
Für die Weiterfahrt nach Jekaterinburg bestellt mir das Hotelpersonal freundlicherweise ein Taxi und versorgt mich ungefragt mit Kaffee, um mir die Wartezeit ein wenig zu versüßen. Das Taxi kostet interessanterweise nur gut die Hälfte der Hinfahrt (160 vs. 300 Rubel), was zeigt, dass es sich in Russland lohnt, Taxis bei seriösen Unternehmen telefonisch zu buchen (wenn man denn Russisch spricht) bzw. buchen zu lassen. Andererseits lässt sich für den monetären „Aufschlag“auf der Hinfahrt – in diesem Fall (~1,50 €) – mit der warmen „Kohl-Schewardnadse Begrüßung“ auf einen klaren Mehrwert verweisen, sodass ich nichts bereue.
Fazit
Der Besuch in Nischni Nowgorod war für mich eine positive Überraschung. Neben der spürbaren Authentizität gibt es hier einiges zu entdecken. Da ich von dieser Stadt vor meiner Reiserecherche noch nie etwas gehört hatte, bin ich ohnehin mit großer Offenheit angereist und gab mich vollständig in die Hände der Touristenführerin.
Für mich haben Orte, die sich in Ober- und Unterstadt gliedern, immer einen besonderen Reiz. In Nischni kommt der Zusammenfluss von Oka und Wolga vor der weiten landschaftlichen Kulisse hinzu, sodass ich hier einen der schönsten Ausblicke während meiner Russland-Reise genießen konnte. Nicht nur dieser Aussicht wegen ist der Kreml einen Besuch wert. Hinter den roten Mauern verbirgt sich eine Menge Ästhetik und Geschichte.
Ich empfehle, hier einen Stopp mit einem eintägigen Aufenthalt einzulegen. Die Aussichtspunkte am Kreml sind bei Sonnenuntergang besonders beeindruckend.
Tipps
- NeNinO Tour Company: Bietet private Touren in N. Nowgorod und Umgebung an (➠zur Website)
- Azimut Hotel Nischni Nowgorod: Hotel in der Oberstadt mit tollem Blick über die Kanawinski-Brücke. Das Hotel selbst ist jedoch wenig charmant. Ulitsa Zalomova, 2 (Улица Заломова, 2)
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Hinweis: Alle in diesem Artikel beschriebenen Reisen wurden privat finanziert. Ich erhalte keine finanziellen Zuwendungen von in diesem Artikel genannten Unternehmen oder anderen Organisationen.